Richtlinie für Diversionsverfahren im Saarland
Gemeinsamer Erlass des Ministerium der Justiz, des Inministerium und des Ministerium für Familie, Arbeit, Gesundheit und Soziales zur Umsetzung der Diversion im Saarland vom 3. Januar 1992
(Amtsbl.S.62), zuletzt geändert durch Gem. Erlass vom
18. Juni 1996 (GMBl. S. 220).
Richtlinie für Diversionsverfahren im Saarland
Gemeinsamer Erlass des MdJ, MdI und MFAGS vom 3. Januar 1992
(Amtsbl.S.62), zuletzt geändert durch Gem. Erlass vom
18. Juni 1996 (GMBl. S. 220)
(4213 – 4)
1. Grundsätzliches
1.1 Der Begriff Diversion dient als Sammelbezeichnung für kriminologi-sche Strategien, die weitestmöglich informelle Verfahrensweisen an die Stelle förmlicher justitieller Strafverfolgung setzen.
1.2 Das Ziel des Diversionsverfahrens ist es, durch schnelle Reaktion auf den Verstoß erzieherisch auf den Jugendlichen oder Heranwachsenden, auf den Jugendstrafrecht anzuwenden ist, einzuwirken. Er soll schnell die Folgen seines Fehlverhaltens erfahren und so von weiteren Strafta-ten abgehalten werden. Hierbei stehen die Verstärkung von Problemlö-sungen, die Verminderung der Freiheitsbeschränkungen und der Stig-matisierung im Vordergrund.
1.3 Es muss im Einzelfall sorgfältig abgewogen werden, ob der auch im förmlichen Verfahren enthaltene Erziehungsgedanke den Verzicht auf das förmliche Verfahren rechtfertigen kann. Dies gilt um so mehr, je einschneidender und belastender die Diversionsmaßnahme für den Be-schuldigten ist. Im Einzelfall können trotz Vorliegens der allgemeinen Voraussetzungen für eine nicht förmliche Erledigung gewichtige erzie-herische Erwägungen für die Durchführung eines förmlichen Verfah-rens und gegen eine Diversionsentscheidung sprechen. Diversion darf nicht zu einer Ausweitung der sozialen Kontrolle auf Kosten sonst folgenloser oder weniger einschneidender Erledigungsweisen führen.
1.4 Polizei und Jugendgerichtshilfe können Anregungen für Diversions-maßnahmen geben, nicht aber von sich aus erzieherische oder sonstige Maßnahmen einleiten, die den Jugendstaatsanwalt in seiner Entschei-dung über das Ob und Wie von Diversion präjudizieren. Im Übrigen bleiben die Rechte und Pflichten der Jugendämter auch im Rahmen der Diversion unberührt.
1.5 Vorgegeben sind
a) die gesetzliche Entscheidungszuständigkeit des Jugendstaatsanwalts,
b) die Schlüsselrolle der Polizei als in der Regel erste Kontaktbehörde zum Betroffenen,
c) der oft bereits vorhandene Informationsstand der Stadt- und Kreisju-gendämter (Jugendgerichtshilfe) und deren jeweils örtlich gegebenen Einflussmöglichkeiten,
d) die Möglichkeit zur flexiblen Verfahrensweise entsprechend den örtli-chen Gegebenheiten der beteiligten Behörden.
2. Verfahren
2.1 Dem (Jugend-)Sachbearbeiter der Polizei kommt bei der Diversions-strategie die Aufgabe zu, die erste Vorauswahl der für eine Diversion geeigneten Jugendlichen oder Heranwachsenden zu treffen. Dabei prüft er, ob nach seinem Eindruck auf Grund der Ermittlungen
– zur Person des Beschuldigten
– zu dessen Tatmotivation
– zu etwa bereits auf den Beschuldigten erzieherisch einwirkenden Re-aktionen (durch Eltern, Ausbilder, Schule, Geschädigte usw.)
eine Diversion ohne besondere oder nach Durchführung erzieherischer Maßnahmen möglich erscheint. In Zweifelsfällen soll eine telefonische oder persönliche Abklärung mit dem Jugendstaatsanwalt erfolgen und das Ergebnis in den Akten vermerkt werden.
2.2.1 Eine Prüfung der Eignung für eine Diversion kommt beispielsweise bei nachstehenden Straftaten in Betracht:
– Ladendiebstahl und Umpreisungen
– Diebstähle von Fahrrädern
– leichte Fälle des Automatenaufbruchs
– Diebstahl und Unterschlagung in Fällen des § 248a StGB
– Hehlerei
– fahrlässige Körperverletzung
– vorsätzliche Körperverletzung bei leichtem Angriff und leichten Folgen
– Beförderungserschleichung
– leichte Verstöße gegen das Waffengesetz (bei Verzicht auf die Rückgabe der sichergestellten Waffe)
– Sachbeschädigung als Jugendstreich
– Missbrauch von Notrufen
– Fahren ohne Fahrerlaubnis mit frisiertem Mofa (sogenannte Ritzel-Fälle) oder mit Pkws auf Parkplätzen und Feldwegen und damit zusammenhängende Verstöße gegen das Pflichtversicherungsgesetz
– unerlaubtes Entfernen vom Unfallort bei Schäden an Leitplanken oder Böschungen, falls sich der Jugendliche bzw. Heranwachsende bis zum nächsten Tag selbst stellt
– leichte Verstöße gegen das Ausländergesetz (verspäteter Antrag auf Aufenthaltserlaubnis nach Vollendung des 16. Lebensjahres)
– leichte Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz (unerlaubter Besitz von Haschisch bis zu 3 Gramm)
– Beleidigung.
Der vorstehende Katalog ist nicht als abschließend anzusehen und soll lediglich als Orientierungshilfe für die Polizeibehörden dienen, wann eine Diversion vom Charakter der Tat her vertretbar erscheinen kann.
2.2.2 Eine Diversion setzt im Übrigen voraus, dass der Beschuldigte geständig ist. Sie setzt in der Regel voraus, dass ein Delikt von einem Jugendlichen oder Heranwachsenden zum ersten Mal begangen wird. Als Ersttäter ist anzusehen, wer mit einer Straftat erstmals auffällig wird, wer mit einer weiteren Straftat ein Delikt begeht, das entweder im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut oder auf die Art der Tatbe-gehung mit der ersten Straftat nicht vergleichbar ist oder wer eine weitere Straftat in erheblichem zeitlichem Abstand zu der ersten Tat begeht.
2.3 Erscheint eine Diversion ohne Durchführung besonderer erzieheri-scher Maßnahmen möglich, legt der (Jugend-)Sachbearbeiter der Poli-zei die Akten ohne Beteiligung der Jugendgerichtshilfe dem Jugend-staatsanwalt mit der Anregung vor, von der Verfolgung gemäß § 45 Abs. 1 JGG abzusehen. Der Jugendstaatsanwalt stellt das Verfahren ohne Einschaltung des Richters nach § 45 Abs. 1 JGG unter den Vor-aussetzungen des § 153 StPO ein, also wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfol-gung besteht.
2.4.1 Der Jugendstaatsanwalt sieht von der Verfolgung ab und stellt das Verfahren ohne Zustimmung des Richters ein (§ 45 Abs. 2 JGG) wenn eine anderweitige erzieherische Maßnahme den Jugendlichen in einer Weise fördert, dass eine Entscheidung durch den Jugendrichter
entbehrlich ist. Es ist die Annahme begründet, dass erzieherische Re-aktionen aus dem sozialen Umfeld eines Jugendlichen nachdrückli-cher empfunden werden und in einem unmittelbaren Anschluss an die Tat besonders geeignet sind, die Einsicht in das begangene Unrecht zu fördern und damit künftiges Verhalten zu beeinflussen.
2.4.2 Anhaltspunkte für eine anderweitige erzieherische Maßnahme können sich ergeben aus Niederschriften oder Vermerken der Polizei, die bei ihren Vernehmungen auf die persönliche und soziale Situation des Beschuldigten eingehen und insbesondere auch bereits erfolgte er-zieherische Reaktionen erfassen sollte, oder aus Mitteilungen des Ju-gendamtes über erzieherische Reaktionen oder über eine beachtliche Verhaltensänderung des Beschuldigten nach der Tat.
2.4.3 Wenn es aus erzieherischen Gründen geboten erscheint, hört der Ju-gendstaatsanwalt die Jugendgerichtshilfe vor einer Einstellung nach § 45 Abs. 2 JGG oder ordnet während des Ermittlungsverfahrens ihre Beteiligung durch den (Jugend-)Sachbearbeiter der Polizei an.
2.4.4 In den Fällen der Ziffer 2.4.3 berichtet das Jugendamt möglichst kurzfristig dem Jugendstaatsanwalt
a) über bereits gewährte oder eingeleitete erzieherische Maßnahmen und
b) erklärt unter Würdigung
– der Persönlichkeit
– der Tatumstände
– der familiären und sozialen Bindungen,
ob ohne weitere erzieherische Maßnahmen von einer Verfolgung abgesehen werden kann oder ob als Voraussetzung für ein Abse-hen von der Verfolgung weitere und gegebenenfalls welche erzie-herischen Maßnahmen vorgeschlagen werden oder aus welchen Gründen eine Diversion nicht empfohlen wird.
Gibt das Jugendamt innerhalb einer gesetzten Frist eine Stellungnahme nicht ab, wird unterstellt, dass ein Absehen von Verfolgung ohne weitere Maßnahme für unbedenklich gehalten wird. Auf Antrag des Jugendamtes kann der Jugendstaatsanwalt eine Nachfrist gewähren.
2.4.5 Die Entscheidung des Jugendstaatsanwaltes wird dem Beschuldigten entweder in einem Ermahnungstermin eröffnet oder mit einem jugendmäßig begründeten Bescheid bekannt gegeben. Erscheint eine mündliche Mitteilung der Entscheidung des Jugendstaatsanwalts aus erzieherischen Gründen geboten, so kann er in geeigneten Fällen die Polizeibehörde oder das Jugendamt um Erledigung und kurzen Bericht hierüber ersuchen.
2.5.1 Ist noch keine angemessene erzieherische Reaktion erfolgt oder hält der Jugendstaatsanwalt weitere erzieherische Einwirkungen für notwendig, so kann er auch selbst die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verfolgung nach § 45 Abs. 2 JGG schaffen, indem er ein erzieherisches Gespräch mit dem Jugendlichen führt, ihn ermahnt, eine Schadenswiedergutmachung oder Entschuldigung anregt, die Teil-nahme an einem polizeilichen Verkehrsunterricht oder einem Erste-Hilfe-Kurs empfiehlt oder eine sonstige Erziehungsmaßnahme einlei-tet, wobei er in geeigneten Fällen das Jugendamt um deren Durch-führung und Überwachung ersucht.
Erforderlich hierfür ist, dass der Beschuldigte den Vorschlag der Staatsanwaltschaft annimmt und der Erziehungsberechtigte und der gesetzliche Vertreter nicht widersprechen.
2.5.2 (aufgehoben)
2.5.3 Um die erzieherische Einwirkung zu vertiefen, kann der Jugend-staatsanwalt den Beschuldigten zu bestimmten Terminstagen vorla-den, die auch am Ort des Wohnsitzgerichts des Beschuldigten durch-geführt werden können.
2.5.4 Die Richtlinien Nummern 2.4.3 bis 2.4.5 gelten entsprechend.
2.6.1 Kommt eine Verfahrenseinstellung nach § 45 Abs. 1 oder 2 JGG nicht in Betracht und hält der Jugendstaatsanwalt eine Ahndung durch Urteil für entbehrlich, leitet er das formlose richterliche Erzie-hungsverfahren nach § 45 Abs. 3 JGG ein.
2.6.2 Das formlose richterliche Erziehungsverfahren nach § 45 Abs. 3 JGG ist auch in solchen Fällen angezeigt, in welchen der Jugendstaatsanwalt eine notwendige Anhörung des Beschuldigten und die Einlei-tung einer erzieherischen Maßnahme nicht selbst vornehmen kann.
2.6.3 Der Jugendstaatsanwalt verbindet die Übersendung der Akten an den zuständigen Jugendrichter mit der Anregung, nach § 45 Abs. 3 JGG zu verfahren, mit dem Vorschlag der Erteilung einer Ermahnung oder einer bestimmten Auflage.
2.6.4 Die Beteiligung der Jugendgerichtshilfe ist Sache des Jugendrichters.
2.6.5 Folgt der Jugendrichter der Anregung des Jugendstaatsanwalts, so stellt dieser das Verfahren nach § 45 Abs. 3 JGG ein.
2.7 Von der Regelung der Diversionsstrategie bleibt die Möglichkeit des Jugendstaatsanwalts unberührt, in sonstigen Fällen, insbesondere bei nicht geständigen Tätern oder bei Wiederholungstätern im Einzelfall gemäß § 45 JGG von der Verfolgung abzusehen.
2.8.1 Dem Diversionsverfahren ist von allen beteiligten Behörden die größtmögliche Beschleunigung zu geben.
2.8.2 Nach den räumlichen und personellen Möglichkeiten kann das Diver-sionsverfahren intensiviert werden, wenn der (Jugend-) Sachbearbei-ter der Polizei den Vorschlag des Jugendamtes im Wege telefoni-scher oder persönlicher Rücksprache einholt und in einem Vermerk in den Akten niederlegt.
2.8.3 Zur Gewährleistung eines beschleunigten Aktendurchlaufs sind die Akten durch die Polizei mit dem roten Aufdruck „Diversion“ zu kennzeichnen.
3. Fortbildung
3.1 Die Schulung, Einweisung und Fortbildung der betreffenden Polizeibeamten ist sicherzustellen.
3.2 Die Einweisung und Fortbildung der zuständigen Sachbearbeiter bei den Jugendämtern erfolgt über das Landesjugendamt und die örtlichen Träger der Jugendämter.
4. Dienstbesprechungen
Die Staatsanwaltschaft veranlasst bei Bedarf (Erfahrungsaustausch, Fortentwicklung der Diversion) Dienstbesprechungen mit der Kriminal- und der Schutzpolizei sowie den Leitern des Landesjugendamtes und der Jugendämter.
5. In-Kraft-Treten
Diese Richtlinie tritt am 1. Februar 1992 in Kraft. Zum gleichen Zeit-punkt wird die Richtlinie für Diversionsverfahren im Saarland vom 7. September 1989 (Amtsblatt S. 1451) aufgehoben.
Stand: 19.12.2002